You are currently viewing Von der Polarstern – LEG2 – Teil7

Von der Polarstern – LEG2 – Teil7

(K)ein Schiff wird koooooomen?
von Steffen Graupner
 

Aktualisiert: Feb 28

03. Februar 2020

87° 26’N

285 km bis zum Pol

22 Uhr Bordzeit (20 Uhr Jena)

Auf unserem Schiff erreichen mich ganz viele Fragen von zu Hause, großen Dank dafür, und ich versuche die regelmäßig auch in diesem Blog zu beantworten. Doch heute möchte ich in umgedrehter Richtung beginnen und mal eine Frage in die Heimat senden, ganz direkt und sorgenvoll an die kompetente Damenwelt:

Wachsen Wimpern nach???

Gewiß eine komische Frage für einen Mann! Und ehrlich gesagt, habe ich mich nie mit dem Thema Wimpern beschäftigt – so lange ich noch welche hatte. Doch langsam werden sie arg wenig. Wie das kommt?

Wenn wir in die Kälte rausgehen, dann sollte man bei Temperaturen von Windchill unter -40 °C keine freie Haut der Witterung aussetzen, also Gesichtsmaske tragen und über den Augen eine Skibrille. Weil es aber dunkel ist und man eh schon so wenig sieht mit dem eingeschränkten Sichtfeld in der Kapuze, …, verzichte ich meist auf die Skibrille. Ich möchte ja klar sehen, wohin ich mit dem Schneemobil fahre, wo ich die Seismometer im Eispressrücken verbuddele, ob ein Bärchen auf der Scholle steht. Der eiskalte Wind regt dann besonders starken Tränenfluss an – das kennt jeder vom Radfahren daheim. Tja, und bei -40 °C gefrieren diese Tränen innert Minuten an den Wimpern zu dicken Eisbrocken, verschweißen manchmal gar Ober- und Unterlid über die Wimpern miteinander und dann sieht man auf einmal Mono oder gleich gar nichts mehr. Die einfachste Lösung des Problems ist, mal schnell nach innen ins Warme zu gehen, ein paar Minuten zu warten, und pling plong fallen die Eisstücke von allein heraus. Aber draußen im Feld geht das natürlich nicht so einfach. Bei Windstille kann man versuchen, die warme Ausatemluft mit der Hand umzuleiten und zum „Defrosten“ der Augenlider zu verwenden, nur klappt das nicht immer. Um trotzdem wieder den Durchblick in Stereo zu bekommen, muss man im schlimmsten Fall rohe Gewalt anwenden, die Eisstücke herausreißen und das bezahlt man dann jedes Mal mit ein paar Wimpern. Die wachsen doch wieder nach, oder…?

Womit wir, angesichts obiger aus den kalten Temperaturen resultierender kleiner Probleme, endlich über das Wetter sprechen sollten. Der Deutsche Wetterdienst DWD unterhält an Bord der Polarstern eine eigene Bordwetterwarte, die in zwei Richtungen arbeitet. Zum einen produziert sie einen ganz lokalen Tageswetterbericht für die Polarstern am frühen Abend, den der Kapitän als erster bekommt und der dann im Science Meeting 18:30 Uhr allen Fahrtteilnehmern vorgestellt wird als Entscheidungsbasis für die Aktivitäten des nächsten Tages. Am nächsten Morgen gibt es dazu noch mal ein Update und 8:15 Uhr eine Kurzbesprechung des Wetters und bei Hubschrauberflügen eine engmaschige Überwachung des Wettergeschehens zur Flugsicherheit. Und zum anderen ist unsere Wetterwarte ebenso eine wertvolle, weil so abgelegene, Messstation und Datenlieferant für die großskaligen Wettermodelle, die der DWD daheim auf seinen Computern rechnet und die dann in der abendlichen Tagesschau erscheinen. Fürs Wetter an Bord „zuständig“ ist die Meteorologin Julia Wenzel aus Dresden und ihr Kollege Steffen Schröter kümmert sich als Techniker um die Sensoren. Wetterfee Julia stellt dann jeden Abend ganz charmant und mit täglich aufwändiger animierten lustigen Powerpointfolien das Wetter für die folgenden 3-4 Tage vor. Ein einziges klitzekleines Problem gibt es bei der ganzen Sache: Das ist überhaupt kein Wetter, was sie uns da erzählt. Es ist einfach jeden Tag die gleiche Suppe! Seit sechs Wochen! Die Temperatur pendelt um die -30 °C, meist ist sie so zwischen -27 °C und -33°C und auch der Wind variiert nur geringfügig zwischen 4 m/s und 8 m/s bei einer Luftfeuchte von 70…80 %. (Was einer extrem trockenen Luft entspricht, denn wenn man ein solches Luftpaket auf die Zimmertemperatur des Schiffes erwärmt, fällt die Feuchte auf unter 10 % und entsprechend anstrengend ist das auch für die menschlichen Schleimhäute.) Für den Windchill ergeben Temperatur und Wind dann so zwischen -40°C und -50 °C.

Anstelle dieser Monotonie hatten wir aus den Aufzeichnungen der letzten Jahrzehnte ein hochvariables und hochaktives Wettergeschehen im Winter in diesen Breiten der Arktis erwartet. Das sollte geprägt sein von heftigen Winterstürmen mit Temperaturstürzen unter -50 °C und auch von Wärmeeinbrüchen im Januar/Februar mit Temperaturen um den Gefrierpunkt selbst am Nordpol. Stattdessen zieht von der Barentssee aus ein Tief nach dem anderen südlich von uns vorbei, verkrümelt sich irgendwo in die Laptewsee oder auch rüber in die kanadische Arktis und die Beaufortsee und bei uns ändert sich wettermäßig mal rein gar nichts. Julienne von der Remote Sensing Gruppe und Taneil vom Team Atmos (=Atmosphärenforschung) haben neulich in einem Vortrag erklärt, wie es zu dieser Großwetterlage kommt. Die Leute von Remote Sensing (RS) sitzen für gewöhnlich eher daheim am Großrechner und versuchen die verschiedenen Klimadaten (Temperatur am Boden, Eistemperatur, Eisdicke, Schneedicke, Strömungsgeschwindigkeiten von Wasser und Eis …) großflächig über verschiedene satellitengestützte Verfahren von Laser oder Radar in verschiedenen Frequenzbändern zu erheben. Diese Satellitendaten müssen nun mit realen „harten“ Messwerten vom Boden kalibriert werden. Dafür ist RS zuständig, während sich das Team Atmos um die Stoffströme in der Atmosphäre und durch die Grenzschicht zum Eis kümmert. Beide Teams arbeiten jeden Tag ausdauernd draußen auf dem Eis. Von ihren Arbeitsgruppen an der Heimuniversität UCL (University College London) und NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration) haben Julienne und Taneil ein paar Strömungskarten der obersten polaren Atmosphäre bekommen. Und da zeigt sich, dass wir seit Weihnachten eine extrem starke und schnelle zirkumpolare Luftströmung von West nach Ost haben. In 27 km Höhe erreicht sie in Extremwerten bis zu 600 km/h „Windgeschwindigkeit“ über der zentralen kanadischen Arktis. Entsprechend dominiert diese Luftströmung um den Pol herum und koppelt uns von den Luftströmungen in niedrigeren Breiten ab und hier in Polnähe herrscht dann oben beschriebene Monotonie.

Seit Wochen liegen wir unserer Julia also in den Ohren: „Mach uns doch endlich mal bitte bitte ein bißchen Wetter!“ Und was soll ich sagen – sie hat sich zwar eine Weile bitten lassen, aber dann richtig tief in die Kiste gegriffen. Ganz großes Wetterkino! Hier die Temperaturkurve für den Monatswechsel von Januar auf Februar:

 
 

copyright: DWD, Julia Wenzel

Über einige Tage ist das Wetter regelrecht Achterbahn mit uns gefahren, die Temperatur hat wild zwischen -11 °C und -37 °C hin- und hergependelt. Teilweise haben wir Temperaturstürze von 20 Kelvin in 6 Stunden erlebt. Bei so schnellem Wechsel weiß man dann gar nicht mehr, was man anziehen soll, zumal der Wind im gleichen Maße verrücktspielte und bis auf 20 m/s (Windstärke 8) anwuchs. In einem Extrem fiel der Windchill dann auf unter -60 °C und da haben wir auch einen Vormittag lang die Außenarbeiten unterbrochen. An -40 °C Windchill haben sich mittlerweile alle absolut gewöhnt, das juckt gar keinen mehr. Bis -50 °C Windchill ist es auch noch ok – nur muss man dann langsam mal über eine zweite lange Unterhose nachdenken. Ab -60 °C Windchill wird es allerdings schon sehr schattig und wir können auch nicht mehr sinnvoll arbeiten in den dicken Handschuhen, eingepackt wie ein Michelinmännchen. Umso bemerkenswerter, daß dank der guten Polarausrüstung und strengen Schulung und Kontrolle durch das Logistikteam noch niemand ernsthafte Erfrierungen bekommen hat. Einige kleinere Frostschädender Haut an Nase, Jochbein, Fingerkuppen, …, werden folgenfrei ausheilen.

Die Wetterkapriolen der letzten Tage haben auch einiges an Schneefall gebracht, zudem wird Schnee durch die starken Winde über weite Strecken verfrachtet. Julienne hat heute in ihrem Messgebiet von RS eine mittlere Schneedicke von 40 cm gemessen. Aufmerksame Leser des Blogs werden sich erinnern, daß Martin Schneebelli vor drei Wochen lediglich 10 cm gemessen hat. Die Schneedicken sind für alles Wetter- und Klimageschehen relevant und wichtiges Untersuchungsobjekt der Wissenschaft an Bord der Polarstern – und sie werden in den nächsten Tagen noch an ganz anderer Stelle relevant… Auf dem Weg der Kapitan Dranitzyn mit der Ablöse von Leg 3 zu uns, siehe unten, muss die alte Dame sich eben nicht nur mit mächtigem Eis auseinandersetzen, sondern auch mit diesem aufliegenden Schnee. Man mag sich nun verwundert fragen, was denn ein paar Schneeflocken der 24.000 PS Urgewalt eines russischen Eisbrechers anhaben könnten, der doch anderthalb Meter mächtiges weiches Sommereis noch mit 1 Knoten Geschwindigkeit durchpflügen kann. Lange Zeit war mir diese Problematik auch überhaupt nicht bewusst. Valeri Antepin, mein Freund und 70jähriger Eismaster aus Murmansk, hat mir das vor ein paar Jahren erklärt. Ein Eisbrecher kann verschiedene Technologien nutzen, um das Eis zu „brechen“, in jedem Fall muss er das in Schollen zerbrochene Eis danach auf irgendeine Art und Weise aus der Fahrrinne herausbekommen, um sich selbst da hindurch bewegen zu können. Dazu gibt es einen ganzen Ansatz von Ideen, die ich vielleicht später einmal erläutern kann. Doch immer müssen die gebrochenen Eisschollen bewegt werden – entweder nach unten oder seitlich unters oder übers angrenzende Eis. Diese Bewegung vollzieht sich umso leichter, je weniger Reibung zwischen der Außenhaut des Schiffes und der wegzutransportierenden Eisscholle besteht. Deshalb haben leistungsstarke Eisbrecher wie die Kapitan Dranitzyn oder auch die Atomeisbrecher der Arktika-Klasse bis zu 1000 Düsen aufwendig unterhalb der Eislinie in die Außenhaut des Rumpfs verbaut. Mit hohem Druck wird Luft durch diese Düsen nach außen ausgestoßen, um einen „Luftblasenvorhang“ zwischen Rumpf und Eis aufzubauen und somit die Reibung zu reduzieren. Und Schnee auf dem Eis bewirkt nun das genaue Gegenteil, es erhöht die Reibung zwischen Schiff und Eis enorm. Viele Eisbrecherkapitäne fürchten nichts so sehr wie dicke Schneeauflage, die das Vorankommen massiv bremst…

Unsere Polarstern ist in den letzten zwei Wochen auch nicht so richtig gut vorangekommen gen Nordpol. Die wechselnden Winde aus allen Richtungen haben uns mehrmals zwischen 87° 20’N und 87° 30’N hin- und hertreiben lassen, ohne dass wir Breite gewonnen hätten und dem Pol näher gekommen wären. Jetzt hoffen wir für die nächsten Tage auf beständige Südwinde, um unseren eigenen Breitenrekord von 87°30’N bald und deutlich brechen zu können.

Dramatisch und hochemotional voran ging es hingegen bei der „Arctic Soccer League“! Nach dem ersten Spieltag mit dem 5:3 Sieg unserer Mannschaft „Number One“ gegen die „Young Boys Polarstern“ und meinem Bericht darüber im letzten Blog erreichte mich viel Feedback von daheim. Zuallererst gab mir eine glühende Verehrerin von Peter Ducke eindringlich zu verstehen, daß weiland Peter Ducke mitnichten nur als fauler statischer Knipser vor dem gegnerischen Tor rumgestanden hätte und daß ich doch bitte nicht so respektlos ihren Jungmädchenschwarm demontieren solle. Als Beweis echter Fanschaft wurde über WhatsApp eine handsignierte Autogrammkarte von Ducke vorgelegt. Das nenne ich Treue über Jahrzehnte! Vor allem in Anbetracht dieser überaus mutbehafteten Haarmode damals… Ich nehme meine Behauptung also reumütig zurück und werde fortan das Gegenteil vertreten. Dann wurde nach den bei uns üblichen Ablösesummen gefragt. Nun, währungsmäßig sind wir in Einheiten von „Bierkisten“ und „Whiskeyflaschen“ unterwegs und die Preise steigen logischerweise mit voranschreitendem Turnier (und in die Ferne rückendem Ankunftstermin der Dranitzyn mit ihrem Alkoholnachschub). Als wirkliche Schocknachricht aus Jena habe ich vernehmen müssen, daß der Stadtrat dem nun bald viertklassigen Fußballverein FC Carl Zeiss Jena doch tatsächlich einen Stadionneubau ohne Leichtathletikrundbahn spendiert hat. Das wird nicht nur die Stadtfinanzen auf Jahre ruinieren, sondern auch der traditionsreichen Leichtathletik in Jena den Garaus machen. Und die hat immerhin einen aktuellen Olympiasieger vorzuweisen, während wir beim Fußball in der vierten Liga im nigelnagelneuen Stadion dann die Meuselwitzer begrüßen dürfen. (Und, liebe Meuselwitz-Fans, bitte keine bösen Emails, ich habe nix gegen Meuselwitz!) Haben die Fußballer völlig den Realitätssinn verloren? Nur, weil sie jetzt auch Fans am Nordpol haben? Weiters gingen hochdotierte Angebote für den Kauf der Übertragungsrechte hier ein, weil wohl die „Arctic Soccer League“ spannender und authentischer sei als die Bundesliga. Danke für die Blumen! Die Rechte sind absolut unveräußerlich und die Berichterstattung wird auch zukünftig ganz klassisch mit Text und Standbild sein.

Vor lauter Schmerz über die Niederlage seiner „Young Boys“ gegen uns hat Lutz den zweiten Spieltag auf letzten Donnerstag vorgezogen. Das ist uns „Number Ones“ gar nicht gut bekommen. Am Vortag war die abendliche Skitour, am Donnerstag dann ein vollgepackter Tag auf dem Eis, weil sich eine breite Eisspalte aufgetan hatte und viele Teams der Wissenschaftler dort lange gemessen haben. Jedenfalls war ich ganz schön müde, habe die Thüringenflagge gar vergessen mit aufs Eis zu nehmen, dann mussten wir die hässlichen orangefarbenen Leibchen tragen und mein furchteinflößendes „Heaven shall burn“ Shirt kam so überhaupt nicht zur Geltung. Ich war einfach schlecht drauf – mit langsamen Beinen und langsamem Kopf. Und unser indischer Torwart Vishnu hatte auch einen ganz miesen Tag erwischt und jeden Ball, der auf seinen Kasten ging, reinkullern lassen. 0:4 sind wir gegen die „Inter Mosaics“ eingegangen, Vishnu stand mit einem halben Bein schon auf der Transferliste. Es war ein richtig gebrauchter Spieltag! Lutz ging es nicht besser und er hat sein zweites Spiel ebenso verloren wie das erste gegen uns, diesmal gegen die „Nin(j)a Turtles“. Nach dem zweiten Spieltag führten die Turtles also die Tabelle der „Arctic Soccer League“ souverän mit 6 Punkten an und konnten die darauffolgenden Tage vor Kraft kaum laufen. Um uns diesen Anblick nicht länger als unbedingt nötig zumuten zu müssen, wurde der dritte und letzte Spieltag dann gleich auf den nachfolgenden Sonntag terminiert. Wir gegen die Turtles und die Young Boys gegen die Inter Mosaics.

Und diesmal wollte ich alles richtig machen. Perfekte Vorbereitung mit einem alkoholarmen Zillertal am Vorabend, Mittagsschläfchen am Spieltag, Auffüllen der Kohlehydratspeicher mit Spaghetti, reduzierte Spielkleidung für schnellere Sprints auf dem Eis,… Eine ganze Stunde vor Spielbeginn haben wir ein Kurztrainingslager angesetzt und das sollte vor allem aus einer sehr ernsthaften Einheit Torwarttraining bestehen. Aus allen Winkeln flogen die Bälle auf Vischnus Kasten und er ist immer besser geworden. Dann nochmal schnell rein ins Schiff auf Kammer, trockene Spielkleidung anziehen und der dritte Spieltag konnte beginnen. Ich bin mit der, am umgedrehten neuen Eisbärenstock (siehe nächster Blog, manche sagen, der sieht aus wie ein Sauspieß, aber das stimmt nicht, es ist ein wunderschöner eleganter Tuk) befestigten, Thüringenflagge die Gangway hinunterstolziert aufs Spielfeld hinauf und habe dabei gesungen: „Bambule, Randale, wir kommen von der Saale.“ Bereits in dem Moment schlotterten den Ninjas die Knie. Die Mädels aus der Küche haben sich wieder als Cheerleader in Schale geschmissen und ein neues prächtiges Fanbanner entworfen.

Die hoch favorisierten Turtles sind in leicht veränderter Aufstellung angetreten, Victor und Ivo im Sturm, Nina und Martin (statt Matthias) in der Abwehr und Jan im Tor – wir in der eingespielten Stammformation Vischnu – Dean, Jegor – Jörn, ich. Den zweiten verkorksten Spieltag hatten Jörn und ich immerhin noch zu einer dringend nötigen Gegnerbeobachtung genutzt und die Hintermannschaft der Turtles als einzigen möglichen Schwachpunkt ausgemacht. Entsprechend sah unser Matchplan vor, bei Angriffen der Turtles die schnellen Victor und Ivo durch konsequente Manndeckung aus dem Spiel zu nehmen, sie in eigener Vorwärtsbewegung zu überspielen und uns dann mit robuster Körpersprache durch eine erwartbar löchrige Hintermannschaft zu kombinieren und den zu dick angezogenen und damit unbeweglichen Torwart mit kraftvollen flachen Fernschüssen zu prüfen. Schnell hatte Jörn das 1:0 erzielt, dann stand es 1:1 weil ich einem verlorenen Ball nicht konsequent genug nachgesetzt habe. Doch unser Plan ging auf. Jörn hat mir einen butterweichen Paß in den Lauf serviert und ich musste zum 2:1 nur noch einschieben. Zum Halbzeitpfiff nach 10 Minuten führten wir 3:1 nachdem ich den Torwart der Turtles mit einem traumhaften Heber überlupft hatte. Die Turtles lagen erstmals in der Liga zurück und waren völlig konsterniert. Die zweite Halbzeit wurde emotional. Sehr emotional. Unser Team hat das Spiel ganz kühl mit kontrolliertem Zeitspiel 4:3 nach Hause geschaukelt. Da zeitgleich Lutz mit unglücklichem Eigentor und verschossenem Elfmeter gegen die Inter MOSAiCs 4:5 verlor, sah die Abschlusstabelle so aus, dass die drei Teams „Number One“, „Nin(j)a Turtles“ und „Inter MOSAiC“ je sechs Punkte hatten und die „Young Boys Polarstern“ null Punkte. Um nicht bei Punkgleichheit und umstrittenem Torverhältnis einen unklaren Sieger zu küren, hat Lutz beschlossen, dass wir noch eine Finalrunde in den nächsten Wochen ausspielen müssen mit zwei Halbfinals und einem richtigen Endspiel. Und Schiedsrichter.

Genau wie daheim auch beginnt am Montag nach dem Sonntagsspiel die neue Arbeitswoche und ich bin mit Igor Shelkin vom AARI in St. Petersburg (Arctic and Antarctic Research Institute, also das russische Pendant zum AWI) den ganzen Tag unterwegs gewesen zur Wartung seiner Seismometer. Die Seismometer sind seit Mitte von Leg 1 auf einer Scholle zweijährigen Eises direkt auf dem Eis installiert und funken ihre Daten ca. 1 km zum Schiff. Vor ein paar Tagen hat sich ein 4 m hoher Eispressrücken direkt hinter dem Seismometer aufgeworfen und die direkte Funkstrecke unterbrochen. Zum Glück ist das Seismometer selbst intakt gewesen. Mit Igor haben wir dann einen Repeater als Signalverstärker und „Sendemast“ direkt auf den Eispressrücken gebaut, mit ausreichend Batterien bestückt und seitdem empfangen wir auf der Polarstern wieder seismologische Signale.

Igor ist mit seinen 60 Jahren arktisches Urgestein, hat einige der abenteuerlichen russischen Nordpoldriftexpeditionen in den 1980er und 90er Jahren absolviert. Wenn er, auf Russisch und mit den kargen Worten des alten Polarniks von seiner Arbeit erzählt, dann behauptet er mit verschmitzten Augen, er höre dem „…Eis beim Flüstern zu…“. Was für eine treffende wundervolle Beschreibung! Mit seinen Breitbandseismometern kann er in den Horizontalkomponenten X und Y die langwelligen Eisbewegungen als Antwort auf das intensive Wettergeschehen der letzten Tage sichtbar machen.

 
 

copyright: Igor Shelkin

Mit Christian Haas, unserem Expeditionsleiter, konnten wir neulich auch eine sehr schöne Zeltnacht auf dem Eis verbringen. Insgesamt 20 Leute, Wissenschaftler & Crew, sind mit Eric, Markus, Ashild und mir vom Logistikteam und mit den mit Schlafsäcken und Zelten beladenen Pulkas einige Kilometer nach Norden gewandert. Auf einem ebenen Stück Eis inmitten von Eispressrücken haben wir die neun Zelte aufgeschlagen und bei -30 °C und 10 m/s Wind Schlafsäcke, Zelte und Kocher testen können. In meinem einwandigen Zelt von den Bergexpeditionen war es schon ganz schön frisch. Und ein tolles Erlebnis, dieses Zelt nach den schönen Erlebnissen im afghanischen Hindukusch 2016 nun hier am Nordpol erneut zu nutzen. So weit weg vom hell erleuchteten Schiff habe ich in der arktischen Neumondnacht die Dunkelheit und Kälte viel intensiver gespürt. Nachts knirschen die Schritte der Bärenwächter ohrenbetäubend laut in dieser Stille.

 

Bild 3 / gelbes Zelt: TNF Assault 3, das uns schon 2016 in den Hindukusch ( www.wakhan-expedition.de) begleitet hat

Und zu guter Letzt, die allerspannendste Frage: Wie schaut es mit unserer Ablösung aus und der Anreise der Fahrtteilnehmer von Leg 3 mit der uns so gut bekannten Kapitan Dranitzyn?

Wir können es selbst kaum glauben, aber unsere Zeit auf dem Eis nähert sich laut Plan dem Ende, soll in wenigen Tagen vorbei sein und unser Rückweg beginnen. Vor einer Stunde hat die KD in Tromsö die Segel gesetzt und sich auf den Weg zu uns gemacht. Geplant war ihre Abfahrt schon vor einer Woche am 27. Januar, aber aus verschiedenen Gründen war sie erst ein wenig später in Tromsö und musste dann, genau wie wir damals, fast eine Woche im Fjord abwettern, um eine Lücke in den Schlechtwettersystemen der Barentssee zum Auslaufen abzupassen. Nun ist die Dranitzyn unterwegs, soll am 15. Februar längsseits der Polarstern festmachen für einige Tage der Übergabe von Leg 2 auf Leg 3, und danach uns Teilnehmer von Leg 2 pünktlich am 05. März in Tromsö abliefern. Auf „Marine Traffic“ kann jeder daheim ihre Route verfolgen.

Auf ihrem Weg durchs Eis zu uns wird die KD einige Herausforderungen zu bewältigen haben. In der Vorbereitung und Pressearbeit zu MOSAiC wurde ausführlich darauf hingewiesen, dass eines der vielen Abenteuer unserer Expedition darin besteht, im Hochwinter aus eigener Kraft durch die zentrale Hocharktis zu fahren. Es gab seit Fridtjof Nansens Drift mit der Fram vor 127 Jahren zwar eine Handvoll Schiffe, die sich haben einfrieren lassen und „huckepack“ auf dem Eis passiv die Arktis im Winter durchquert haben (z. B. Tara usw.). Aber kein Schiff hat je im Winter den Pol oder die Polnähe erreicht! Bob Headland vom Scott Polar Research Institute in Cambridge führt als Polarhistoriker beiliegende Liste und verzeichnet darin alle zivilen Fahrten zum Pol.

Bis auf eine Ausnahme fanden alle 146 Polfahrten durchs Eis bislang im Sommer statt – zwischen Ende Mai und Ende September, allein ca. 100 Fahrten davon gelangen den beiden stärksten Eisbrechern der Welt, den nuklear betriebenen „50 Jahre des Sieges“ und „Yamal“ mit ihren je 75.000 PS. Die knapp 50 anderen Polfahrten verteilen sich auf die weiteren russischen/sowjetischen Eisbrecher, den schwedischen Eisbrecher „Oden“, unsere Polarstern mit bereits fünf Polfahrten im Sommer, und einige kanadische und amerikanische Eisbrecher. Die „eine Ausnahme“ dabei findet sich in der Liste am 19. Oktober 2013, als die „50 Jahre des Sieges“ mit der olympischen Flamme der Winterspiele an Bord den Pol in Rekordzeit erreichte. In Bobs Liste sind nur die zivilen Reisen (Wissenschaft & Tourismus) erfasst, die Militärs rücken naturgemäß keine Informationen über – vor allem U-Boot – Besuche am Pol raus. Für das bisherige Ausbleiben von winterlichen Polfahrten gibt es eine Handvoll Gründe. Zum Einen werden die dafür notwendigen Eisbrecher zum wirtschaftlich wichtigen Freihalten der Schiffsrouten zu den Buntmetallkombinaten in Norilsk und den Gasterminals auf der Jamal-Halbinsel benötigt, zum Zweiten ist ein Besuch am Pol in absoluter Dunkelheit nicht so interessant wie im Sommer und schließlich ist die Eisdicke selbst eine Herausforderung. Der 19. Oktober ist bislang also der winternächste Zeitpunkt, an dem je ein Schiff den Nordpol erreicht hat. Das Maximum der flächenhaften Eisbedeckung wird in jedem Jahr Mitte März erreicht, das Dickenwachstum in der Zentralarktis kommt einige Wochen später erst zum Erliegen. Im Sommer 2016 konnte ich erleben, wie sich das baugleiche Schwesterschiff der Dranitzyn, die „Kapitan Klebnikow“, mit einem Knoten Geschwindigkeit kraftvoll und stetig durch anderthalb Meter dickes wassergesättigtes Sommereis gearbeitet hat. Nun also wird die Dranitzyn ihre gesamten 24.000 Pferdestärken schwer arbeiten lassen, um das spröde harte Wintereis (1,20 m beim einjährigen Eis und 1,50 m beim zweijährigen Eis) mit der bremsenden Schneeauflage zu meistern. Mit ein wenig Glück erleichtern ihr Systeme offener Kanäle – sichtbar in den satellitengenerierten Eiskarten – die Arbeit. Sollte die KD nicht ganz bis zu unserer Position vordringen können, dann hat das AWI dafür natürlich einen Plan B vorbereitet und wird den Austausch der Wissenschaftler und Besatzung, die Anlieferung neuer Lebensmittel, Ersatzteile und Instrumente mit ausgeklügelter Logistik und unseren beiden bordeigenen Hubschraubern durchführen. Es bleibt also in jedem Fall spannend! Und wer sich selbst ein Bild von den technischen Möglichkeiten der Dranitzyn machen möchte, kann dies gern mit dem beiliegenden Datenblatt tun.