Neustart mit Hindernissen
von Steffen Graupner
LEG 2
Steffen Graupner – Polarsterntagebuch Teil 1
Steffen Graupner – Polarsterntagebuch Teil 2
Steffen Graupner – Polarsterntagebuch Teil 3
Steffen Graupner – Polarsterntagebuch Teil 4
Steffen Graupner – Polarsterntagebuch Teil 5
Steffen Graupner – Polarsterntagebuch Teil 6
LEG 5
Steffen Graupner – Polarsterntagebuch2 Teil 1
Aktualisiert: Aug 10
28. Juli 2020
53° 30’N
4070 km vom Pol
20 Uhr, Bremerhaven
Als ob die Logistik der MOSAiC Expedition nicht schon herausfordernd genug wäre, hat Corona in den letzten Monaten alles über den Haufen geworfen und neue Pläne notwendig gemacht. Die Drift der Polarstern über den arktischen Ozean von September 2019 bis Oktober 2020 wird nun nur noch aus insgesamt fünf, statt der ursprünglich geplanten sechs Reiseabschnitte bestehen. Während des zweiten Fahrtabschnittes, Leg 2, konnte ich zu Beginn des Jahres vier Monate auf der Polarstern überwintern und nun freue ich mich, den letzten Teil der Expedition, Leg 5, begleiten zu können. Nach dem Eis und der Finsternis des arktischen Winters erwarten uns nun dauerhaftes Licht in den Sommermonaten, Schmelztümpel auf dem Eis, teilweise offenes Wasser zwischen den Schollen, die Arbeit in einer halbaquatischen Umgebung und mit dem Überfrieren des Eises ab Ende August der Beginn eines neuen Jahreskreises.
Bevor wir jetzt Ende Juli überhaupt losfahren können, galt es eine Menge Hindernisse zu überwinden. Bedingt durch Corona, stand im April die Fortführung der MOSAiC-Expedition vor schier unüberwindbaren Hindernissen: Die je fast 100 Teilnehmer eines jeden Fahrtabschnittes aus fast 20 verschiedenen Ländern hätten kaum zum Abfahrtshafen nach Tromsö reisen können, die fürs Frühjahr und den Sommer geplanten Zubringereisbrecher ODEN und XUELONG II wurden von ihren Entsendenationen Schweden und China kurzfristig zurückgezogen. MOSAiC stand ohne Anreiseoptionen für die Teilnehmer da, ohne Abfahrtshafen und ohne Transportmittel. Nur die Polarstern selbst hielt tapfer an der Eisscholle aus, die Wissenschaftler nutzten fleißig jeden der wertvollen Messtage und das Schiff trieb mit dem Eis weiter auf die Framstrasse zwischen Spitzbergen und Grönland zu. Fieberhaft wurde nach Alternativen gesucht. Für Leg 4 sah die Lösung so aus, daß sich die Expeditionsteilnehmer aus aller Welt in Bremerhaven versammeln, dort zwei Wochen in ein Hotel in Quarantäne gehen, nach mehreren Corona-Tests dann auf die kurzfristig von der Bundesregierung zur Verfügung gestellten Forschungsschiffe Sonne und Merian steigen, nach Spitzbergen fahren und dort die Polarstern treffen, die dafür einige Wochen ihre Scholle mit den installierten Geräten verlassen wird. Anfang Mai hat Leg 4 dann also in Bremerhaven das Quarantänehotel bezogen, am 25. Mai Spitzbergen erreicht und dort noch eine ganze Weile auf die Polarstern warten müssen. Mächtiges Eis erschwerte ihr den Weg von der Scholle nach Longyearbyen. In den ersten Junitagen war es dann soweit – im Fjord vor Longyearbyen kam es zum denkwürdigen Treffen der drei wissenschaftlichen deutschen Flaggschiffe Polarstern, Sonne und Merian und die Teams von Leg 3 und Leg 4 wurden ausgetauscht; neuer Proviant, Diesel und Messinstrumente auf die Polarstern verladen. Mitte Juni war Leg 3 daheim in Deutschland und Ende Juni konnte Leg 4 nordwestlich von Spitzbergen auf 82°N abermals an „unserer Scholle“, die uns seit Oktober 2019 begleitet, festmachen, die Messnetze wieder aufbauen und die wichtige Schmelzphase im Juli untersuchen.
Die ersten sechs Tage der Quarantäne müssen wir in Einzelquarantäne verbringen, streng voneinander getrennt. Das Hygienekonzept wurde von Prof. Drosten selbst abgesegnet und wird mit aller Strenge durchgesetzt. Konkret bedeutet das für uns einen ersten Corona-Test am Anreisetag, dann sechs Tage Einzelquarantäne, dann ein zweiter Corona-Test und wenn auch der negativ ist, wird aus der Einzelquarantäne eine Gruppenquarantäne und wir dürfen uns zumindest frei im Hotel bewegen und begegnen. Am 14. Tag erfolgt dann ein dritter Test und wenn alle gesund sind, besteigen wir zwei Tage später den russischen Forschungseisbrecher Akademik Tryoshnikov, der uns zur Polarstern bringt.
Für die nächsten zwei Wochen im Hotel richte ich mir mein Zimmer wohnlich ein, hänge all die Flaggen, Banner und Fotos der heimatlichen Vereine und Freunde auf, installiere meinen externen Monitor und in wenigen Stunden entsteht ein kleines Büro in meiner heimeligen Thüringenstube.
Unterdess haben sich alle 72 Fahrtteilnehmer in einer WhatsApp Gruppe „Leg 5 Quarantine“ vernetzt. Eine Woche lang können wir uns nicht persönlich kennenlernen, sondern nur elektronisch. Und sehen außer dem Hotelpersonal, das uns das Essen vor die Tür stellt, keine Menschenseele.
Eberhard, der Arzt des AWI, und sein Assistent haben als einzige externe Personen Zutritt zum Hotel. Am Nachmittag beginnt Eberhard seine Runde mit den PCR-Tests und fährt mit seinem Stationswägelchen wie in einem Klinikflur von Zimmer zu Zimmer, arbeitet sich von unten nach oben vor. Mein Zimmer liegt in der vierten und obersten Etage und so habe ich alle Zeit der Welt, der WhatsApp Kommunikation zu folgen, die sich mittlerweile entsponnen hat. Diejenigen, die ihren Test bereits absolviert haben, teilen ihre Erfahrungen blumig ausgeschmückt mit uns, denen der Test noch bevorsteht. Es muss ganz furchtbar und schmerzhaft sein! Eine Welle der Angst schwappt durchs Hotel, kommt näher und näher. Dann die Nachricht auf WhatsApp: „‘Eberhard der Schreckliche‘ hat die vierte Etage erreicht!“. Mein Herz rutscht mir in die Knie. Sekunden später klopft es an der Tür und Eberhard steht im Zimmer, in der Hand einen Stab mit Wattebausch zur Probenentnahme. Das sieht eigentlich ganz harmlos aus, ähnlich einem Wattestäbchen zum Ohrensäubern, nur länger. Viel länger. Mindestens 20cm lang. Zunächst denke ich mir gar nicht so viel Schlimmes dabei und nehme an, daß der Stab nur so lang ist, damit der Arzt beim Abstrich einen gewissen Abstand halten kann. Das ist ein Fehler. Mein zweiter Fehler. Denn der erste Fehler bestand in der Annahme, es reiche für den Test aus, einmal den Mund zu öffnen und dann würde eine Probe von der Zunge entnommen. Falsch! PCR-Test heißt, dass die Probennahme durch die Nase erfolgt. Eberhard steckt mir den Wattestab in ein Nasenloch und schiebt und schiebt und schiebt…, räumt dabei entschlossen alles beiseite was sich ihm an Hindernissen und Anatomie in den Weg stellt. Irgendwann ist Schluß, wobei ich mir nicht sicher bin, ob das daran liegt, dass der Stab nun in ganzer Schaftlänge im Nasenloch verschwunden ist oder ob er bereits von innen am Hinterkopf anstößt. Die Tortur ist allerdings noch lange nicht vorbei. Nun dreht Eberhard den Stab mit dem Wattebausch noch einige Male um die Längsachse. Tränen schießen in die Augen. So muss sich eine Massage der Gehirnrinde anfühlen!
Tja, was tut man nicht alles für die Wissenschaft. Und da wir alle die unbedingte Notwendigkeit der Vermeidung eines Coronaausbruchs an Bord der Polarstern nachvollziehen können, trägt niemand Eberhard den unangenehmen Test nach. Mit jedem weiteren Test wird es auch erträglicher, sei es, weil die Fingerfertigkeit des Arztes steigt oder weil unsere Nasen von dem ersten Test innerlich begradigt sind und nun „barrierefreien“ Zugang ermöglichen.
Einzig möglicher sozialer Kontakt neben dem elektronischen WhatsApp, ist das gute alte „Fensterln“. Gegen acht Uhr abends lugt die Sonne um die Hotelecke und bescheint unsere Glasfront zum Hafenbecken, wo mittlerweile das Forschungsschiff „Heincke“ festgemacht hat. Kurz danach kommen die Kollegen von Leg 5, im Moment eher die „Mitinsassen im Coronagefängnis“ an ihre Zimmerfenster und genießen die Sonne. Viele haben sich auf die Quarantäne gut vorbereitet und einige Flaschen Bier dabei. So kommen wir zumindest mit den benachbarten Zimmern in Kontakt, prosten uns auf die Ferne zu und freuen uns aufs Ende der Einzelzimmerquarantäne.
Für mich sind die Tage der Einzelquarantäne zunächst gut ausgefüllt mit von daheim noch liegengebliebener Büroarbeit. Außerdem komme ich endlich mal wieder zum ungestörten Lesen von Büchern. Und an den Zimmerservice, der die Mahlzeiten vorbei bringt, kann man sich echt gewöhnen 😉
Und trotzdem fühlt sich irgendetwas komisch an. Es dauert eine ganze Weile, ehe mir klar wird, woran das liegt.
Jede größere Reise, zu der ich bislang aufgebrochen bin, folgt ihrem eigenen inneren Muster und Rhythmus und so unterschiedlich all die Reisen verlaufen, so strukturell ähnlich sind sich doch die Tage vor und nach dem Aufbruch. Eine Woche vor Abfahrt beginnt sich die Wohnung daheim in Jena in ein Expeditionslager zu verwandeln, Pakete mit wichtigen Bestellungen kommen täglich mehrfach an. In den verschiedenen Zimmern wachsen thematisch vorsortiert die Haufen „Bergausrüstung“, „Expeditionsnahrung“, „Reiseunterlagen & Bürokram“, „Foto & Technik“, „Klamotten“ und fehlende Bestandteile der Ausrüstung werden in letzter Minute nachbestellt oder ausgeliehen. Auf einmal ist noch soooooo viel zu tun. Pressetermine stehen an, für die Tageszeitung wird eine Lieferunterbrechung vereinbart, die Steuererklärung muss noch schnell raus, für die drei Monate offline werden alle Softwareupdates für Handy und Laptop gezogen, Emails sind zu beantworten, …, Packen, und ganz zum Schluss wird die Wohnung für die Zeit der Abwesenheit an meine Mutter übergeben. Die täglichen Schlafenszeiten verkürzen sich auf ein ungesundes Maß, meist bin ich bis nachts 2 Uhr am Schreibtisch und dann wieder ab früh um 6 Uhr; Blutdruck und Aufregung würden mich eh nicht länger schlafen lassen. Und gleichzeitig heißt es Abschied nehmen von Familie und Freunden. Mit jedem möchte ich gern nochmal Mittag essen gehen, Sport machen, ein Bier trinken oder ein paar Thüringer Bratwürste auf den Rost legen. Mit den vielen kleinen Abschieden einher geht auch eine gewisse Traurigkeit und Melancholie, der Abschiedsschmerz zeigt ja auch deutlich an, wieviel von dem, was mir wichtig ist, ich daheim zurück lasse.
Zum Glück lässt die Dramaturgie des Aufbruches für gewöhnlich kaum Raum für
solchen Abschiedsschmerz. Zunächst steigt die Kurve der inneren Anspannung beim hektischen Packen der letzten Tage an, dann folgen die stressigen Stunden am Flughafen mit dem immer wieder so schwierigen Einchecken des Übergepäckes, bis ich dann in völliger Übermüdung im Flugzeug endlich in den komatösen Schlaf fallen kann, auf den ich mich schon seit Tagen freue. Beim Aufwachen bin ich schon im Zielland, die Expedition beginnt, und jeder Moment ist ausgefüllt von neuen Eindrücken und Herausforderungen. Die Monate verfliegen im Nu und dann bin ich auch schon wieder daheim in Jena. Für Heimweh bleibt unterwegs gar keine Zeit.
Doch nun in der Quarantäne ist alles anders. Ins scheinbar Unendliche gedehnt ist nun jener für gewöhnlich so segensreich kurze Moment Traurigkeit, der stets die wenigen Stunden Zeit umfasst zwischen Abschied von daheim und den neuen ausfüllenden Eindrücken der beginnenden Reise. Zwei Wochen lang schwebe ich zwischen den beiden Welten „Heimat“ und „Ferne“, bin weder richtig hier noch richtig dort, sondern werde in einem Übergangszustand gefangen gehalten. Keine schöne Situation. Hoffentlich geht es bald endlich los!
Am achten Tag der Quarantäne dann endlich die gute Nachricht: „Alle Teilnehmer auch im zweiten Corona-Test negativ.“ Die Einzelquarantäne wird aufgehoben und wir dürfen nun die Zimmer verlassen und uns wenigstens im Hotel frei bewegen. Die ersten Stunden traut sich noch niemand aus seinem Zimmer heraus. In der WhatsApp Gruppe wird schüchtern allseits gefragt. „Dürfen wir wirklich….?“
Als ich mein Zimmer verlasse und die ersten Schritte auf dem Flur mache, fühlt sich das tatsächlich an, als würde ich etwas Illegales tun. Schuldbewusst wie ein Einbrecher schleiche ich auf Zehenspitzen über den Flur, die Treppe hinab ins Foyer, auf die kleine abgesperrte Terrasse draußen. Endlich frische Luft und Sonne! Nach und nach stoßen die Anderen hinzu, sich stets mit Schulterblick versichernd dass niemand uns „erwischt“ und wieder auf die Zimmer schickt. Aber alles ist gut und wir können uns nun endlich auch persönlich kennenlernen.
Am Abend gibt es eine kleine Party. Salar vom Team Ocean hat ein kleines mobiles DJ Mischpult dabei und träumt davon, später irgendwo auf dem Eis den „nördlichsten Rave“ aufzulegen. Von Leg 2 habe ich mir von Ben die Anregung mitgenommen, ein Paar leistungsstarke Bluetooth Lautsprecher zu besorgen – für Musik und Filme auf der Tryoshnikov, das Zillertal auf der Polarstern und zur weiteren Verwendung bei meinen Vorträgen daheim. Mit Salars Mischpult entsteht daraus im Handumdrehen eine Musikanlage. Nur ein passender Tisch mit möglichst hoher Arbeitsfläche fehlt noch. Salar fragt an der Rezeption nach einem Bügelbrett. Selbstverständlich hat die Dame für ihn ein Bügelbrett in schickem Schwarz; wobei sie ihn ein wenig verständnislos anschaut, als er auf das genauso hilfsbereit angebotene Bügeleisen verzichtet und meint: „Für den Rave brauche ich nur das Bügelbrett!“. Auf der Terrasse wird die Anlage aufgebaut und Salar legt die ganze Nacht auf.
Von der Polarstern hören wir in diesen Tagen nicht viel. Die Kollegen arbeiten bis zum Umfallen, um die letzten Tage der Messzeit zu nutzen. Die Scholle mit der Polarstern driftet bis auf 79°N nach Süden, wird dabei immer morscher. Von oben und unten schmilzt die Scholle zusammen, liegt nur noch wenige Meilen von der Eiskante entfernt. Ein Sturm gibt ihr den Rest und zerbröselt die einst so mächtige Eisscholle, die fast 10 Monate lang unser Central Observatory trug, in kleine Bruchstücke. Mit einem mächtigen Knall ist die MOSAiC Eisscholle am 30. Juli Geschichte. Zum Glück konnten die Kollegen von Leg 4 am Vorabend noch alle wichtigen Messgeräte abbergen – perfektes Timing also. Nun sammeln sie noch einige Tage die Außenstationen, die L-Sites und M-Sites, aus dem Wasser und dem Eis ein und warten dann an der Eiskante zwischen Spitzbergen und Grönland auf uns.
Zeit das wir zur Polarstern aufbrechen!